Die estnische Mentalität
Die Menschen in Estland sind durch ihre Geschichte der zahlreichen feindlichen Besatzungen zu
patriotischen Individualisten geworden, die Fremden eher zurückhaltend und mit einem gewissen Abstand begegnen. Körperliche Berührungen von Fremden oder bei geschäftlichen Treffen sind auf ein Mindestmass wie Händeschütteln reduziert, wobei die Umgangsformen der Esten eigentlich nach dem ersten Kennenlernen recht locker werden und die Anrede mit dem Vornamen nicht ungewöhnlich ist. Bei Verabredungen sollte man pünktlich erscheinen, denn Esten warten ungern und sind uns Deutschen nicht unähnlich in der genauen Einhaltung von geschäftlichen Terminen. Fragen nach persönlichen Verhältnissen sollte man tunlichst unterlassen, da die Menschen in Estland nicht über ihre rein privaten Angelegenheiten sprechen.
Ist jedoch der erste Bann des Sich-Kennen-Lernens gebrochen, lieben Esten es, ihre „Besitztümer“ voller Stolz als Zeichen ihres wirtschaftlichen Erfolges zu präsentieren. Allerdings wird man auch dann kaum etwas aus dem wirklich privaten Leben des Menschen erfahren, es sei denn man feiert und trinkt miteinander, denn der Genuss von Alkohol lockert auch bei den ansonsten ziemlich wortkargen Esten die „Zunge“. Sie zeigen dann ihren durchaus speziellen Humor und sind nicht mehr so verschlossen in ihren Äusserungen. Das nationale Gemeinschaftsgefühl ist in Estland besonders stark ausgeprägt, deshalb sollte man als Gast in diesem Land mit Kritik besonders vorsichtig umgehen.. Nach der langen Zeit der Fremdherrschaft legen die Esten extremen Wert auf Selbstbestimmung und lassen auch unter Umständen berechtigte Kritik an ihrem Land grundsätzlich nicht zu. So sehr sie in Gesprächen höflich bleiben und jeden aussprechen lassen, können sie aber bei unliebsamen Themen dann auch schon mal in recht stoischer Gelassenheit auf eine Erwiderung verzichten und das Gespräch mit einer peinlichen Pause für alle Beteiligten beenden.
Die Menschen in Estland schätzen das, was man gemeinhin als deutsche Tugenden kennt – Ordnung, beruflichen Fleiss und Pünktlichkeit. Vielleicht sind diese Eigenschaften Relikte aus der Jahrhunderte andauernden Besatzung des Deutschen Ordens, wobei man sagen muss, das die estnische Bevölkerung grundsätzlich nicht gerne über die Zeit der Fremdherrschaft spricht und mit russischen Mitbürgern nach wie vor fast nur beruflich Kontakt hat. Die Deutschen sind dagegen als Touristen oder Studenten eigentlich gern gesehen und werden mit estnischer Gastfreundschaft empfangen. Bildung ist sehr wichtig, denn die Esten halten sich für das intelligenteste und weltoffenste Volk der Baltischen Staaten und sind oft sehr kritisch bis belehrend anderen gegenüber. Die Familie ist wichtig, aber auch materielle Werte haben eine erhebliche Bedeutung in dem Land, das so lange Zeit unter den ärmlichen Verhältnissen während des Sowjetregimes zu leiden hatte. Man ist stolz auf das eigene Häuschen – am liebsten natürlich mit einer eigenen Sauna, denn der Samstagabend ist üblicherweise für den Saunabesuch reserviert. Selbst geschäftliche Treffen finden ganz selbstverständlich in der Sauna statt, die in Estland nach Geschlecht getrennt besucht wird. So können die Herren ungestört ihre geschäftlichen Vorhaben diskutieren und die Damen den Erholungswert eines Saunaganges unter ihresgleichen geniessen.
Abhängig von der Jahreszeit vergnügen sich die Menschen in Estland am Wochenende gern auf dem Land, wo sie selber meist ein nettes Ferienhaus oder ein kleines Boot zum Angeln besitzen oder ihre Verwandtschaft besuchen. Dort sammeln sie Beeren und Pilze, hängen die Angelrute in eines der zahlreichen Gewässer oder gehen auf die Jagd. Im Winter kommt das Ski – und Snowboardfahren noch hinzu, denn in Estland ist besonders Ski-Langlauf eine beliebte Freizeitbeschäftigung. Im Sommer sind die Menschen aufgeschlossener und fröhlicher als im Winter und treffen sich gerne mit Freunden zu einem Picknick oder besuchen gemeinsam die zahlreichen Folkloreveranstaltungen im Land. Eines der beliebtesten Feste ist das „Altatdtfest“ in Tallinn, wo bei schönstem Juniwetter Konzerte, Theateraufführungen und öffentliche Kunsthandwerk-Märkte zum Stöbern einladen. Gerne nutzt man auch die Möglichkeit, ohne lange Anreise mit der Familie und Freunden einen Tag am Strand zu verbringen und gemeinsam zu surfen oder Wasserball zu spielen. Allgemein lässt sich wohl sagen, das die Menschen in Estland durch ihre Vorgeschichte die Freiheit der Selbstbestimmung über alles schätzen, sich deshalb gerne und viel in ihrem Land bewegen und reichlich Gebrauch von den zahlreichen Freizeit – und Sportaktivitäten machen, die ihnen heutzutage zur freien Verfügung stehen.