Die digitale Welt macht’s möglich! – Seit Dezember 2014 kann praktisch jede Person mit einwandfreiem polizeilichen Führungszeugnis virtueller Staatsbürger in Estland werden und muss dafür nicht einmal persönlich in den kleinen Staat am nordöstlichen Rand der EU reisen. Der Antrag für die E-Residenz in Estland ist online verfügbar, kann seit Mai 2015 auch in jeder estnischen Botschaft weltweit gestellt werden und kostet gerade einmal 50.- €, die als Bearbeitungsgebühr und für die Bereitstellung des digitalen Ausweises, des USB-Lesegerätes und der Sicherheits-Pins berechnet werden. Nur für die Eröffnung von Bankkonten ist noch die persönliche Anwesenheit von „E-Bürgern“ in Estland erforderlich, ansonsten können alle geschäftlichen oder behördlichen Vorgänge von jedem Ort der Welt online erledigt werden.
Im Unterschied zur „echten“ Staatsbürgerschaft erwirbt man als E-Resident in Estland allerdings nur eine Art Staatsbürgerschaft „light“, d.h. man hat zwar Zugriff auf die Online-Dienste des Landes und kann per Mausklick auch eine Firma gründen, darf aber nicht wählen und hat kein Einreiserecht oder dauerhaftes Aufenthalts- und Arbeitsrecht in Estland oder einem anderen EU-Land. Zudem ist die digitale ID-Card für E-Residenten nicht als offizielles Reisedokument nutzbar und kann bei Missbrauch von der estnischen Behörde jederzeit eingezogen und für ungültig erklärt werden.
Klingt erstmal spannend – wird bei vielen Menschen aber sicher die berechtigte Frage nach dem Sinn und Nutzen dieser weltweit nur in Estland möglichen digitalen Staatsbürgerschaft aufwerfen.
Bei genauerer Betrachtung ist die „E-Residency“ in Estland eine innovative Marketingstrategie, mit der in erster Linie die Ansiedlung ausländischer Firmen gefördert und langfristig das eigene Wirtschaftswachstum gesichert werden soll. Angesichts der geringen Bearbeitungsgebühr und einfachen Antragstellung „lohnt“ sich die E-Residenz allerdings auch für Austauschstudenten und zeitlich befristet im Land tätige Geschäftsleute, denn mit der digitalen ID-Card können
E-Residenten nahezu alle Online-Dienste nutzen, die auch der estnischen Bevölkerung zugänglich sind und den Alltag, das Geschäftsleben und den Umgang mit staatlichen Behörden für alle Beteiligten erheblich erleichtern.
Estland gehört mit 1,3 Millionen Einwohnern zwar zu den kleinsten Mitgliedstaaten der EU, hat sich aber in Ermangelung vielfältiger eigener Ressourcen schon Anfang der 1990-er Jahre auf den Bereich elektronische Informationstechnologien konzentriert und innerhalb weniger Jahre mit hohen Technologie- und Sicherheitsstandards in allen digitalisierten Bereichen zum IT-Vorzeigestaat in der europäischen Union entwickelt. Seit 1999 sind der Staat und die behördliche Verwaltung bereits vollständig digitalisiert und arbeiten gänzlich papierlos, was eine enorme Zeit- und Kostenersparnis zur Folge hat. Im März 2000 wurde die digitale ID-Card als gültiges Ausweis- und Reisedokument in Estland eingeführt und seit 2003 können estnische Staatsbürger auch mit einer personalisierten SIM-Card per Mobiltelefon oder Tablet auf alle Online-Services des Landes zugreifen.
Da der estnische Staat seinen Bürgern das Recht auf einen kostenlosen Internetzugang gesetzlich garantiert gibt es im Land nahezu flächendeckend, d.h. selbst an abgelegenen Orten und in der Natur öffentliche Computer-Terminals oder frei zugängliche WLAN-Hotspots, so dass der Umgang mit elektronischen Dienstleistungen für rund 95 % der Esten mittlerweile zur Alltagsroutine geworden ist. Mit der ID-Card und dem Smartphone wird online gewählt, Geschäftsverträge unterzeichnet, Banküberweisungen getätigt, die Steuererklärung eingereicht, ärztliche Rezepte verschickt und auch Einkäufe, Parkgebühren etc. bezahlt.
Die weitreichende Digitalisierung begünstigt auch den internationalen Geschäftsverkehr und bietet ausländischen Investoren in Kombination mit der stabilen Wirtschaftslage, niedrigen Lohnkosten und Unternehmer-freundlichen Steuergesetzen in Estland deutliche Wettbewerbsvorteile im Vergleich zu anderen, technologisch weniger fortschrittlichen EU-Ländern. Seit Estland im Jahr 2011 den Euro eingeführt hat entfallen auch etwaige Währungsschwankungen im innereuropäischen Handel, wodurch gerade für Firmen aus den EU-Nachbarländern Deutschland (Siemens, E.ON) , Finnland (Nokia, Stockmann), Schweden und Frankreich die Gründung einer Niederlassung in Tallinn noch lukrativer geworden ist.
Bezogen auf das niedrige Lohnniveau in Estland offenbart der Satz „Des einen Freud ist des anderen Leid“ jedoch eine nicht zu unterschätzende Problematik des kleinen Balten-Staates. Einerseits sind die geringen Lohnkosten ein wesentlicher Grund für die Ansiedlung neuer Industriebetriebe aus dem Ausland und der Entstehung von neuen Arbeitsplätzen. Andererseits führen die geringen Verdienstmöglichkeiten trotz vergleichsweise niedriger Lebenshaltungskosten zur Abwanderung vieler gut ausgebildeter Esten in benachbarte EU-Länder mit höheren Stundensätzen, wodurch der demagogische Wandel mit entsprechend nachteiligen Auswirkungen auf das zukünftige Wirtschaftswachstum in dem kleinen Land beschleunigt wird.
Da Estlands Wertschöpfungssystem sich neben forst- und agrarwirtschaftlichen Erzeugnissen und einigen Stahlbaubetrieben in Tallinn im wesentlichen auf den Technologie-Bereich und digitalen Dienstleistungssektor beschränkt erscheint es nur logisch, dass der Mini-Staat mit seinen hervorragenden digitalen Ressourcen wirbt und als erster Staat weltweit mit der „E-Residency“ seine virtuelle Welt für Nicht-Esten öffnet. Obwohl sich die Vision von mehr als 10 Millionen virtuellen Staatsbürgern bis 2025 wahrscheinlich nicht erfüllen wird ist das internationale Interesse an der E-Residenz in Estland doch erstaunlich hoch. Mittlerweile haben mehr als 12000 Personen die virtuelle Staatsbürgerschaft beantragt und man darf gespannt sein, in wieweit sich dieser Trend in den kommenden Jahren fortsetzt und auch andere Länder zu ähnlich innovativen Modellen der Wirtschaftsbelebung inspiriert.